Der Wert des typologischen Denkens in der Pflanzensoziologie – seine Bedeutung für Landschaftsentwicklung und Landwirtschaft

Jahrbuch für Goetheanismus 2022, 2022, P.149-222 | DOI: 10.18756/jfg.2022.149

Zusammenfassung:

Ausgehend vom botanischen Begriff des Pflanzentypus wird die Frage gestellt, ob der Typus-Begriff auch auf Pflanzengesellschaften übertragbar ist. Dies ist mithilfe der Pflanzensoziologie möglich, die dazu eine umfassende Methodik erarbeitet hat. Ihre Arbeitsschritte werden beschrieben und in Beziehung zum typologischen Denken gebracht, wobei viele Querverbindungen zur Goethe’schen Forschungsmethode sichtbar werden. Diese Arbeitsschritte sind:
   – Auswahl der Vegetationsausschnitte als die zu bearbeitenden Basisphänomene
   – Vegetationsaufnahme: Floristische Analyse jedes dieser Vegetationsausschnitte
   – Tabellenarbeit: Vergleich der Artenkombinationen der Vegetationsaufnahmen, Herausfinden von Ähnlichkeiten und Unterschieden
   – Zusammenfassen der Vegetationsaufnahmen mit ähnlicher Artenkombination zu »Vegetationstypen«
Besonderes Augenmerk wird auf die sogenannte »Tabellenarbeit« gelegt. Durch sie werden die Phänomene (die einzelnen Vegetationsaufnahmen) so geordnet, dass sich die Gesetze (die Vegetationstypen) wie von selbst zeigen. Die so gewonnenen Vegetationstypen können dann – analog zur botanischen Systematik – hierarchisch gegliedert werden, und zwar auf der Grundlage von ähnlichen Artenkombinationen. So wie zu einem Vegetationstypus (= Pflanzengesellschaft) eine typische Artenkombination gehört, so gehören zu ihm auch typische Standortbedingungen: ein typischer Boden, ein typischer Wasserhaushalt, ein typisches Kleinklima usw. Damit wird es möglich, Landschaft zu lesen, indem die Pflanzengesellschaften alle diese Standortkräfte ins Bild setzen. Eine Schwierigkeit zieht sich jedoch durch die gesamte Methodik, nämlich die, dass Vegetationstypen sehr plastisch sind, also räumlich und zeitlich ineinander übergehen. Was auf diese Weise als Problem beim eindeutigen Erkennen von Vegetationstypen erscheint, erweist sich auf der anderen Seite als Vorteil, wenn es um die Anwendung der Pflanzensoziologie im Rahmen von Landschaftsentwicklungs-Konzepten geht. Denn in der Plastizität von Vegetationstypen liegt auch ein evolutives Potenzial. Den Abschluss der Darstellung bilden deshalb Überlegungen, wie der typologische Ansatz der Pflanzensoziologie für eine zukunftsweisende Landwirtschaft genutzt werden kann und muss, in der es um Gesundheit, Lebendigkeit und Vielfalt geht, die wiederum auf einer gesunden, lebendigen und vielfältigen Vegetation basieren.

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