Gedanken zur Entwicklung der Gruppenseele am Beispiel des Vogelzugs

Jahrbuch für Goetheanismus 2019, 2019, P.185-212 | DOI: 10.18756/jfg.2019.185

Zusammenfassung:

Jährlich fliegen etwa 50 Milliarden Zugvögel von ihren Brutgebieten in zum Teil weit entfernte Winterquartiere. Die Zugwege vieler Arten sind heute bekannt und wir wissen auch, dass Zugvögel einen Sonnen-, Stern- und Magnetkompass besitzen. Zudem konnte nachgewiesen werden, dass jeder Zugvogel, insofern er motiviert und entsprechend flugfähig ist, von jedem unbekannten Ort der Erde einen bekannten Ort wiederfinden kann, also über die Kunst der Navigation verfügt. Die Frage, wie Vögel ihre alten Brutgebiete oft punktgenau wiederfinden, beschäftigt die Forscher dennoch nach wie vor. Während die meisten Ornithologen davon ausgehen, dass den Zugvögeln ihre Orientierungsfähigkeiten angeboren sind, spricht Rudolf Steiner vom Wirken der Gruppenseelen, die das Zuggeschehen leiten bzw. dirigieren. Beide Ansichten sollten etwas modifiziert werden. Denn einerseits ist das Navigieren den Zugvögeln nicht vollständig angeboren. Vielmehr muss das Benutzen des Magnetkompasses von den Jungvögeln in den ersten Lebenswochen eingeübt werden. Andererseits zeigt sich bei zahlreichen mit Sendern ausgestatteten Zugvögeln, dass die Flugrouten und Ziele innerhalb einer Art sehr unterschiedlich sein können, zum Beispiel dann, wenn Nestgeschwister in völlig entgegengesetzte Richtungen ziehen. Das wirft Fragen nach dem Wirken der Gruppenseele auf: Ist die Verbindung der Gruppenseele zu einer bestimmten Tiergruppe nur einseitig in Form von übermächtiger Lenkung zu denken? Wirkt die Gruppenseele mehr im Sinne einer freilassenden Führung? Oder regt möglicherweise das individuelle Handeln fortschrittlicher Tiere auch die Entwicklung der Gruppenseele an?

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