Aspekte der Gestaltentstehung von Tier und Pflanze und Sichtweisen Goethes

Jahrbuch für Goetheanismus 2018, 2018, P.41-108 | DOI: 10.18756/jfg.2018.41

Zusammenfassung:

Pflanze und Tier zeigen entweder keine abgeschlossene oder keine fest gefügte Gestalt. Das Prozesshafte bleibt im Leben immer anwesend. Die Pflanze entfaltet sich in einer Zeitgestalt in einem offenen Bauplan. Im ausgewachsenen Gewebe, dem Dauergewebe erlangt sie zwar eine fest gefügte Gestalt, sie tritt aber als Organismus nie umfassend in Erscheinung und behält so das Werden in der zeitlichen Entfaltung. Das Tier zeigt demgegenüber eine Raumgestalt mit Innenraumbildung und einem weitgehend geschlossenen Bauplan. Mithilfe von — neben den Aufbauvorgängen — integrierten Abbauvorgängen ist der tierische und menschliche Organismus in einer ständigen Transformation begriffen, er ist ein gebildeter Fluss. Dem Charakter der Pflanze nähert man sich zunächst am besten über die Wuchsform, die Form des Blattes, der Wurzel, Blüte und Frucht. Die Pflanze lebt sich hier weitgehend als eine Sukzession sich entfaltender Bilder dar. Dem Charakter des Tieres begegnet man eher in der Bewegung und Lebensweise mit den seelisch motivierten Interaktionen als rein über die Form. Das Tier drückt sich so durch ein zeitlich—musikalisches Geschehen aus.

Sowohl der tierische als auch der pflanzliche Organismus zeigen einen hohen Grad an phänotypischer Plastizität. Dies äußert sich bei der Pflanze hauptsächlich im Bild ihrer Wuchsform in Zusammenhang mit den Standort-Qualitäten und der Flora und Fauna an einem Standort. Durch die Plastizität der Pflanze fließen (wechselnde) Raumqualitäten in ihre Zeitgestalt ein. Änderung der Wuchsform ist in einem viel größeren Rahmen möglich als beim Tier. Die Plastizität bei Tier und Mensch tritt vorwiegend durch Veränderung der Lebensweise auf, so dass hier das musikalische Geschehen der Lebensäußerungen in die Gestalt integriert wird. In dieser Hinsicht ist der menschliche und tierische Organismus wie geronnene Musik, Zeitliches wird hier in der Raumgestalt verräumlicht. Hierbei spielt die Leichtbauweise der Tiergestalt eine Rolle, die zu einer engeren Form-Funktionsbeziehung der Strukturen führt als bei der Pflanze. Die Plastizität unterstützt im Ökosystem bei der Pflanze die Passung des Lebensgefüges, das heißt die räumliche Anordnung der Gestalten. Bei Tier und Mensch unterstützt Plastizität in erster Linie die Passung der Lebensweisen, das heißt die Passung der zeitlichen Abläufe der seelisch motivierten Interaktionen. Beides hilft das Ökosystem aufeinander abzustimmen und ihm einen organismischen Charakter zu geben. Die Organismen werden nicht nur durch ihre Plastizität von der Umwelt beeinflusst, sondern sie wirken natürlich auch auf die Umwelt zurück. Die Pflanze modifiziert die Standortqualitäten wie die Feuchtigkeit an einem Standort, und Tier und Mensch modifizieren die eigene Lebewelt zum Beispiel durch Nischenbildung, wie Beweidung, Nestbau und Kultur. Die Wechselwirkung mit der Umwelt, also einmal die plastischen Änderungen als auch die Nischenbildung und Kultur können (neben vielen anderen Faktoren) für die Evolution relevant werden. Bei der Pflanze können evolutionsrelevante Änderungen beispielsweise an besonderen Standorten auftreten, bei den Tieren zum Beispiel durch ein besonderes, neu erlerntes Verhalten, was sich morphologisch durch Plastizität ausprägen kann. Sekundär können die morphologischen Änderungen genetisch fixiert werden durch Einschränkung, Verschiebung oder Erweiterung des plastischen Rahmens (Reaktionsnorm).

Ein zentrales Motiv der pflanzlichen Evolution von den basalen Formen auf dem Weg zu den Blütenpflanzcn ist eine zunehmende Polarität zwischen dem Haftorgan (Rhizom oder Wurzel) auf der einen Seite und dem Spross auf der anderen, welcher Blüten und Früchte entwickelt. Hier entwickeln sich neue Organe nach außen, werden bildlich anschaubar und erweitern die Zeitgestalt unter zunehmender Polarität, oder es kommt zu Vereinseitigungen unter einer Abnahme von Polarität. Bei Tier und Mensch hingegen ist eine zentrale Frage der Evolution die Autonomie von der Umwelt. Hier evolvieren verstärkt die seelischen Ausdrucksmöglichkeiten und die Interaktionsmöglichkeiten mit der Umwelt, das musikalische Geschehen, so dass es zu einer Zunahme von Autonomie kommt, oder es entwickeln sich Vereinseitigungen unter Abnahme von Autonomie.

Referenzen

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