Geist ist im Menschen Eigenwille und Mitgefühl

Das Selbstbewusstsein zwischen Selbstverwirklichung und Selbstüberwindung
Jahrbuch für Goetheanismus 2021, 2021, P.217-266 | DOI: 10.18756/jfg.2021.217

Zusammenfassung:

Die vorgelegte Betrachtung nimmt ihren Ausgang von der Sinneslehre Rudolf Steiners, die am Beispiel des Tastsinnes ergibt, dass die Beteiligung des Eigenwillens am Tasterlebnis bemerkt werden muss, wenn das Ergebnis des Tastens objektiv sein soll. Damit wird beispielhaft verdeutlicht, dass die erkenntnistheoretische Untersuchung der Sinnesprozesse schon seit dem Aufkommen des Rationalismus am Ende des Mittelalters bis hin zu unserer Zeit ein Schwachpunkt der europäischen Philosophie ist und deren Ahnungslosigkeit bezüglich der Realität der geistigen Natur des Menschen bedingt. In einem zweiten Schritt wird die Seelenkunde der europäischen Antike daraufhin geprüft, ob sie die Ursache für die spirituelle Ahnungslosigkeit der heutigen europäischen Philosophie sein könnte. Erstaunlicherweise ist aber das genaue Gegenteil der Fall: Den Widersachermächten in Gestalt des Vatikan ist durch die Tabuisierung des geistigen Menschen zu verdanken, dass die europäische Menschheit sich ganz dem materiellen Kosmos zugewendet und darüber ihr ursprüngliches Seelenwissen verloren hat. Die o.g. Entdeckung des Eigenwillens des Menschen wird nun als Schlüssel zum Verständnis der morphologischen Signatur seiner Embryonalentwicklung und der psychologischen Schritte seiner postnatalen Ontogenese betrachtet, wobei das Auftreten des Erinnerungsvermögens, des Selbstbewusstseins, der Schulreife, der Geschlechtsreife und der Geburt seines Ich mit der Volljährigkeit als Offenbarungen seines Willens genommen werden. Daraus ergibt sich, dass das Ich der Kern einer dreigliedrigen Seele ist, deren Glieder der dreigliedrigen Wesenheit des Menschen aus Leib, Seele und Geist entsprechen. Diese drei Glieder ergeben auch den Schlüssel zum Verständnis zur Dreigliederung des menschlichen Organismus, sowohl in morphologischer als auch in funktioneller Hinsicht, mit der Konsequenz, dass es keine besonderen Seelenorgane gibt, sondern jedes Glied des Organismus der Träger eines Seelischen ist. Schließlich steht auch die Willensfreiheit des ICH zur Debatte. Dies ist eine Debatte, die dadurch völlig schief liegt, dass die daran beteiligten Fachleute den Unterschied zwischen Wilensfreiheit und Wahlfreiheit nicht kennen, ja nicht einmal ahnen, wie groß die Spanne zwischen beiden Begriffen ist. Die von der Anthroposophie gemeinte Willensfreiheit ist eine Freiheit, die alle vernünftigen Einwände gegen eine bestimmte Verhaltensweise anerkennt. Zum Schluss wird noch die Überwindung der Alzheimer-Demenz durch eine Gruppe von Nonnen besprochen, für es die bisher keine schlüssige Erklärung gibt. Im Zusammenhang der hier gemeinten Willensfreiheit bietet sich aber an, diese als eine Kraft zu betrachten, die nicht nur die Vernunft, sondern auch das Mitgefühl für andere Menschen einschließt. Wenn schon Vernunft als eine geistige Kraft anzusehen ist, dann könnte die Nächstenliebe in der Selbstüberwindung die für die Heilung der Altersdemenz gesuchte Kraftquelle sein. Ein großes Hindernis für die zukünftige Entwicklung der Menschheit zur Freiheit und der Gesellschaft zu einer Gestalt, die menschliche Brüderlichkeit, Toleranz und Kreativität zulässt, sodass jedes Individuum sich entfalten kann, ist die immer noch vorhandene Neigung der Ärzteschaft, ihre Beobachtungs- und Therapiemethoden nach naturwissenschaftlichen Prinzipien auszurichten und dadurch den Menschen nach Kriterien zu betrachten und zu behandeln, die seinen Eigenschaften als geistiges Wesen nicht gerecht werden können. Dass die damit gemeinte Realität eine immer noch große, unsere sozialen Verhältnisse bestimmende Macht hat, wird insbesondere an der derzeitigen internationalen Handhabung der Corona-Pandemie evident, die noch Milliarden von Menschen ein vorzeitiges, aber keineswegs selbstgewolltes Ende ihres Erdendaseins aufzwingen wird, wenn diesbezüglich kein geistiges Erwachen eintritt, wie dies in Goethes naturwissenschaftlichen Schriften (Rudolf Steiner Gesamtausgabe Bd. 1) veranlagt ist.

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