Zur Evolution des menschlichen Kopfes

Der Modus der Komplexitätsverschiebung und die Rolle von Heterochronie und Plastizität
Jahrbuch für Goetheanismus 2015, 2015, P.15-102 | DOI: 10.18756/jfg.2015.15

Zusammenfassung:

In der Evolution des menschlichen Kopfes findet eine Komplexitätsverschiebung statt. Komplexität wird vorwiegend in dem Bereich, in welchem der Organismus über die Nahrung direkt mit der Umwelt in Kontakt tritt (distal), in der Kieferregion, abgebaut. Proximal im Innern, im Gehirn, wird, neben auch vorhandenen Abbauvorgängen, Komplexität vorwiegend aufgebaut. Die Evolution der Sprache, mit ihren Sprachwerkzeugen, steht vermittelnd dazwischen und bildet einen Gradienten mit vorwiegendem Komplexitätsaufbau proximal und Komplexitätsabbau distal. Der Komplexitätsabbau in der Kieferregion findet durch Pädomorphose (Neotenie und Postdisplacement) statt, der Komplexitätsaufbau des Gehirns durch Peramorphose (sequenzielle Hypermorphosc und Predisplacement). Bei beiden Prozessen spielt — neben anderen Faktoren — Plastizität eine Rolle. Sowohl die Kieferpartie als auch das Gehirn reagieren hochgradig plastisch auf Anforderungen. Die Kieferpartie wird dabei durch die Kulturleistungen entlastet, das Gehirn hingegen weiter angeregt, was zu seinem Strukturaufbau beiträgt. Es ist wahrscheinlicher, dass die Gene den plastischen Änderungen folgen, als dass sie evolutive Änderungen auslösen. Über seine hohe Plastizität auf biologischer Ebene und durch den Gebrauch und die Entwicklung von Werkzeugen, die Sprache und den sozialen Umgang ist der Mensch mit seiner Lebensweise an seiner eigenen Evolution beteiligt.

Im Laufe der Evolution ist der Mensch mit seinem neotenen Kieferapparat immer weniger in die Umwelt eingebunden. Für die Nahrungsaufbereitung machen ihn Werkzeuge und Feuer zunehmend von einzelnen Nahrungsquellen unabhängiger. Gleichzeitig ermöglichten der zunehmende Schutzraum der elterlichen Fürsorge und die damit einhergehende Verlängerung der Kindheit und Jugend ein längeres Wachstum des Gehirns und eine Zunahme an Lernprozessen. Damit konnte angeborenes und vorgeprägtes Verhalten durch intensivierte und längere Lernvorgänge weitgehend ersetzt werden. Durch beide Entwicklungen erlangt der einzelne Mensch eine höhere Flexibilität und Autonomie, und die Menschen werden als kulturelle Gemeinschaft autonomer gegenüber der Umwelt. Bei der Evolution des Kopfes werden gerade die kindlichen Qualitäten des Kopfes — das Lernvermögen, die hohe Plastizität des Gehirns, das hohe Gehirnwachstum und die geringe Ausreifung der Kieferpartie — durch die frühontogenetisch einsetzende Peramorphose beim Gehirn gesteigert und durch die vorwiegend gegen Ende der Wachstumsphase wirkende Pädomorphose des Kauapparates bewahrt. Im Kopf ist es die Zunahme kindlicher Charakteristika, die zu der menschlichen Autonomie beiträgt, in den unteren Gliedmaßen hingegen die Zunahme adulter Qualitäten.

Referenzen

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