Meditationen an Zweiseitern
ARTIKELREFERENZ EXPORTIEREN
- Downloadkosten : €6
Zusammenfassung:
Der Zweiseiter (Faustkeil) spricht unmittelbar unser künstlerisches Empfinden an. Deren Schönheit wird mittlerweile auch in der paläoanthropologischen Forschung bemerkt. Gleichwohl werden diese ca. 2 Mio. Jahre lang geschlagenen Artefakte – der technomorphen Haltung unserer Zeit entsprechend – oftmals ausschließlich als Werkzeuge bzw. Geräte interpretiert. Die vorliegende Darstellung hingegen entwickelt ihre Fragen an diese Tradition aus der Voraussetzung heraus, dass das Menschheitsbewusstsein von damals ein erheblich anderes gewesen sei – und berichtet in drei Themenkomplexen davon. Zweiseiter an verschiedenen Fundorten in Afrika, Vorderasien und Europa werden aufgesucht, beschrieben und befragt. Nicht die Produktion optimal zugearbeiteter Werkstücke nach intentionalem Entwurf, sondern das Erwachen des menschheitsgeschichtlich frühen Bewusstseins für die Dimensionen des Raumes über den haptischen Vollzug, die Entwicklung des räumlichen Vorstellungsvermögens also, lässt die lange währende Faustkeil-Tradition verständlich werden. Die Schärfe der gezielt zugearbeiteten Faustkeilkanten, die sich beim Gebrauch als Werkzeug als unpraktisch erweisen, ist geronnenes Erlebnis von Linearität. Die bewusstseinsmäßige Verfasstheit des frühen Menschen bei der Zuwendung zum Stein korrespondiert mit der kindlichen Erfahrungswelt bei der Produktion von deren Kritzelzeichnungen. Der Verfolg der Entwicklung dieser Zeichnungen lässt erkennen, dass die Hand des Kindes von einem tiefenpsychologischen, leibverbundenen Existenzgefühl geführt wird, welches die Schritte der leiblichen Reifung zur Ausgestaltung bringt. Gegen Ende der Vorschulzeit erscheint schließlich die gesamte menschliche Gestalt in ihrer naturalistischen Form. In vergleichbarer Weise gelang in der frühesten Zeit der Handfertigkeit unseren Vorfahren die Identifikation mit ihrem Werkstück, dem Zweiseiter. Dieser repräsentiert die menschliche Gestalt selbst, noch ohne jede Naturalistik, dafür in hellfühliger Wahrnehmung des eigenen Seins. In den Zweiseitern liegt uns die aurische Selbstdarstellung des frühen Menschen vor.
Referenzen
- Bembé, B. (2025): Steinbearbeitung als ein Ausgangspunkt der kulturellen Evolution. Jahrbuch für Goetheanismus 2025: 121–169. Stuttgart/Dornach
- Boule, M., Vallois, H. V. (1952): Les homes fossils. Masson et Cie, Paris
- Breuil, H. (1952): Die ältere und die mittlere Altsteinzeit – Alt- und Mittelpaläolithikum. In: Valjavec, F. (Hrsg.), Historia Mundi, Band 1, S. 259–288. München
- Clark, G. (1964): Die Frühgeschichte der Menschheit – ein Überblick. Kohlhammer, Stuttgar
- Fiedler, L. (2022): Faustkeile. Vom Ursprung der Kultur. wbg Academic in Herder, Darmstadt
- Göbel Th. (1976): Erde, die die Seele trägt. Die Mythologie der australischen Völker. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart
- Krüger, H. (1959): Frühpaläolithische Geröllartefakte vom Typ »Pebble tool« in Oberhessen? Quaternary Science Journal, 10, 1, https://doi.org/10.23689/fidgeo-1481
- Leakey, R. E. (1981): Die Suche nach dem Menschen. Wie wir wurden was wir sind. Umschau Verlag, Frankfurt
- Mauser, P. F. (1972): Die eiszeitliche Technik als Ausdruck der unterschiedlichen Bewusstseins- strukturen von Urmenschen und Homo sapiens. In: Homo 23, 1/2, S 129–144. Stuttgart
- Mussi, M., Skinner, M. M., Melis, R. T. & al. (2023): Early Homo erectus lived at high altitudes and produced both Oldowan and Acheulean tools. Science 382 (6671): 713–718. https://doi.org/10.1126/science.add9115
- Potts, R., Anna, K., Behrensmeyer, A. D., Ditchfield, P., Clark, J. (2004): Small Mid-Pleisto- cene Hominin Associated with East African Acheulean Technology. In: Science. Band 305, Nr. 5680, 2004, S. 75–78, doi:10.1126/science.1097661
- Ricci, C. (1887): L’arte dei bambini. Bologna. Zu Deutsch: Kinderkunst. (1906). Voigtländer, Leipzig
- Schad, W. (1996): Urgeschichtliches Palästina. In: Mitte der Erde. Israel und Palästina im Brenn- punkt natur- und kulturgeschichtlicher Entwicklungen, Hrsg. Suchantke, A. (2. Aufl.), 315–415. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgar
- Schad, W. (2008): Galets aménagés en provenance des terrasses supérieures du Rhône au sud de Lyon (Sud-Est de la France). Pebble-tools on the western high-terrace south of Lyon (South- east, France). L’anthropologie 112: 74–103. https://doi.org/10.1016/j.anthro.2008.01.00
- Schad, W. (2019): Was bewegt den anthroposophisch orientierten Naturwissenschaftler? Jahrbuch für Goetheanismus 2019: 7–47. Stuttgart
- Smolla, G. (1966): Die frühe und mittlere Altsteinzeit südlich der Sahara. In: Narr, K. J. (Hrsg.), Handbuch der Urgeschichte, Bd. 1, S. 97–112. Francke, München
- Stekelis, M. (1966): Archaeological excavations at Ubeidiya 1960–1963. The Israel Academy of Sciences and Humanities, Jerusalem
- Stekelis, M., Bar-Yosef, O., Schick, T. (1969): Archaeological excavations at Ubeidiya, 1964– 1966. The Israel Academy of Sciences and Humanities, Jerusalem
- Toth, N. (1995). Die ersten Steinwerkzeuge. In: Streit, B. (Hrsg.), Evolution des Menschen, S. 138–149. Spektrum Verlag, Heidelberg
- Zeller, W. (1936): Der erste Gestaltwandel des Kindes. Barth Verlag, Leipzig