Rudolf Steiners naturwissenschaftlicher Impuls. Ein Brückenschlag von frühen Jugendfragen bis zu den naturwissenschaftlichen Kursen

Jahrbuch für Goetheanismus 2025, 2025, P.5-48 | DOI: 10.18756/jfg.2025.5

Zusammenfassung:

Rudolf Steiner hat von frühester Jugend an mit naturwissenschaftlichen Fragestellungen gerungen. Auch sein Bildungsgang war zunächst naturwissenschaftlich-technisch ausgerichtet. Die von materialistischer Grundhaltung geprägte Naturwissenschaft, die ihm da begegnete, konnte ihn aber nicht befriedigen. Er suchte ein naturwissenschaftliches Denken, das offen ist für eine geistige Perspektive. Zunächst waren es die Begriffe von Raum und Zeit, deren Ungenügen ihn sehr beschäftigte, später war es die in der Physik herrschende Lehre der Wellennatur des Lichtes und in der Biologie die Entwicklungslehre, die ihn herausforderten. Diese Auseinandersetzungen führten ihn zu Goethe. Er entwarf eine Erkenntnistheorie, die eine Rechtfertigung der goetheschen Methode war und zugleich seine eigene Natur- und Geistanschauung harmonisch verbinden konnte. Das, was er dann später als Anthroposophie vertreten hat, begründete er als eine naturgemäße Weiterentwicklung der Naturwissenschaft. Anthroposophie war deshalb für ihn nie ein Gegensatz zu einer richtig verstandenen Naturwissenschaft. Er hat dann später auch innerhalb seiner Tätigkeit für die Anthroposophie Anregungen für eine Erweiterung der Wissenschaften und speziell der Naturwissenschaften gegeben. In drei naturwissenschaftlichen Kursen für die Lehrer der ersten Waldorfschule hat er konkret über insbesondere physikalische Themen gesprochen und weitreichende Ideen entwickelt. Im zweiten Teil des Aufsatzes werden Motive aus diesen Kursen zusammengestellt. Dazu gehört das Aufgreifen und Anknüpfen an aktuelle Forschungsergebnisse, eine Anerkennung der Bewusstseinsentwicklung der Menschheit und einer dementsprechenden Entwicklung der Wissenschaftsmethodik und die Phänomenologie als zeitgemäßer Ausgangspunkt der Naturwissenschaft. Naturwissenschaftliche Begriffe wurden von Rudolf Steiner immer im Zusammenhang mit dem Menschen gebildet, dabei kam es ihm darauf an, den Menschen in seiner leiblichen und geistig-seelischen Totalität im Zusammenhang des gesamten Kosmos zu betrachten. Das Lebendige (in anthroposophischer Nomenklatur das Ätherische) wird als eigenständige Entität erkannt und daraus ein zur Erfassung des Lebens adäquater neuer Zeit- und Raumbegriff gebildet. Indem die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Fragen im Lebenslauf Rudolf Steiners und die dazu gehörigen Antworten als Motive des Gesamtimpulses nebeneinander gestellt werden, werden die persönliche Bedeutung und die Kontinuität dieses Themas für Rudolf Steiner deutlich. Auf seine frühen Jugendfragen fand er Antworten durch die Ausbildung der anthroposophischen Geisteswissenschaft. Die Zusammenstellung der Motive ergibt ein Gesamtbild, das die Einheit dieses Impulses deutlich macht und eine Hilfe sein kann, um anknüpfend an Steiners Ideen naturwissenschaftliche Themen zu bearbeiten.

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